Veränderung und Loslassen Teil 5 - Unterwegssein und Umkehr ... Mein Weg: Wolfgangs Kolumne im Mai

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Umkehren, wenn's nicht weitergeht... ist das eine Option? Und wie finde ich den Weg zurück?

“Wenn ich die Dinge, die geschehen, nicht ändern kann, dann muß ich meine Haltung zu den Dingen ändern.”

Anonymus


Auf dem Camino Santiago - in den Montes de León..

Wow, noch so ein schlauer Spruch... das denken jetzt sicher viele, stimmts?? Aber ganz oft läuft uns eine gewichtige Erkenntnis in einem eher ärmliche Gewand über den Weg - diese Erfahrung habe ich tatsächlich schon sehr oft machen dürfen..

Wir sind also unterwegs, haben uns ausgiebig vorbereitet, sorgen gut für uns und üben uns im Loslassen - doch oft sind wir allein, auf dem Weg und auch mit unseren Zweifeln.. Schaffe ich das? Reicht meine Kraft? Ist das überhaupt der richtige Weg? Soll ich nicht doch lieber umkehren? Bestimmt habe ich mich verlaufen, eine Abzweigung verpasst, seit Stunden niemand mehr getroffen, da stimmt doch etwas nicht... usw. usf. Dies oder ähnliches hören alle in ihrem Kopf - die mahnende und zweifelnde Stimme, die uns immer wieder nervt, aber doch nicht locker lässt..

Umkehren keine Option? Klingt gut, tough, tapfer - ist aber ... Bullshit! Und warum?

Durchziehen, mutig vorwärtsgehen, kämpfen ist eine erfolgversprechende Option für kurze, knackige Hindernisse oder überschaubare Veränderungen. Den Jakobsweg kann man nicht "mal eben" mit "Augen-zu-und-durch" hinter sich bringen, genausowenig wie einen Ultramarathon oder eben ein groß angelegtes Veränderungsprogramm - hier helfen nur gute Planung, Durchhaltevermögen, Übersicht und ja, eben auch Ausstiegsszenarien und Wegalternativen.

Erfahrene Bergsteiger, Trekker, Pilger kennen es: auf schwierigen Wegen muss eine Umkehr vorbereitet sein, vor allem die Notwendigkeit, den Weg zurück auch zu finden! Ein ganz alter Trick: dreh Dich um beim Laufen, sieh Dir an, wie der aktuelle Weg in der Rückschau ausschaut, ob Markierungen noch sichtbar sind oder ob es andere einprägsame Formen und Zeichen gibt. Kommen viele Abzweigungen auf Deinem Weg vor, ist es sinnvoll, sich den letzten 100%igen Wegpunkt einzuprägen und auch die Strecke dorthin zurück.

Auf einer langen Reise gibt es unglaublich viele Unwägbarkeiten, die dann auch alle zur gleichen Zeit auftreten können:Wetterwechsel, geschlossene Herbergen und Geschäfte, Verlust von Geld und Ausrüstung, Diebstähle, Nebel und Dunkelheit...das alles kann vorkommen und man kann sich, je nach Persönlichkeit, darauf mehr oder weniger vorbereiten: auf meinen Pilgerwegen habe ich Menschen mit riesigen Rucksäcken, GPS - Empfängern und Solarpaneelen getroffen, sie waren auf jedes Wetter und jede Notsituation vorbereitet, kamen aber recht langsam vorwärts und oft erschöpft am Ziel an - die Erfahrung, die eigene Kraft, die Solidarität der Mitpilger oder die spirituelle Energie des Weges spüren zu können, darauf zu vertrauen.. das ging vielen dieser tapferen Einzelkämpfer ab.

Auch den anderen begegnete ich, den frohgemuten Pilgern mit kleinem Gepäck, Sandalen und unglaublichem Gottvertrauen, auch hier viele, die genau so, unversehrt und glücklich, die Kathedrale mit dem Apostelgrab erreichten. Aber ich sah auch hier Dutzende, die müde, erschöpft und krank auf dem Weg scheiterten, irgendwo hängen blieben und mit Bus, Taxi oder gar Rettungsfahrzeugen zurückkehrten.. es ist Teil des Spiels, wir müssen es akzeptieren und unsere Haltung entsprechend anpassen. Und das gilt 1 : 1 auch wieder im Umgang mit komplexen Changeprojekten - die richtige Haltung, Offenheit gegenüber den Beteiligten,Vertrauen und Demut in die Dynamik / die Veränderungsenergie des Prozesses, das macht den Unterschied.. genau das sind die Erfolgsfaktoren die wir brauchen, damit wir achtsam sind und die Zeichen erkennen!

Die Zeichen, die uns sagen, mal eben anzuhalten, den Standort zu bestimmen, abzubrechen oder gar umzukehren. Diese Zeichen gibt es - immer! Die Volatilität der Welt anzuerkennen und die eigene Haltung dazu zu verändern, das macht einen erfolgreichen Changemanager, einen guten Projektleiter und letztlich auch einen zufriedenen Pilger aus.


Mein Freund Nigel kurz nach unserer verregneten Ankunft in Santiago de Compostela...

Ich habe selbst diese Erfahrungen gemacht, habe gekämpft und mich zäh weitergequält, auf einem Weg, der schon lange nicht mehr der richtige war - beim Höhenbergsteigen, beim Trekken, in komplexen IT - Projekten, Organisationsveränderungen und ja, auch als Pilger auf dem Camino de Santiago.. Im Gegensatz zu den Erfahrungen vieler anderer Bergsteiger, Projektleiter, Berater und Pilger gab es auf meinen Wegen immer etwas oder jemand, der mich in die richtige Richtung wies, mir ein Essen ausgab, im Projekt die Reissleine zog oder mich schlicht aufgehalten hat.. all dies so lange, bis ich die Lektion verinnerlicht hatte:

Nicht kämpfen! Loslassen! Vertrauen! Die Haltung ändern! Anhalten! Sich helfen lassen! Ausruhen! Umkehren!

Heute kann ich das viel besser und kann es vor allem anderen Menschen nahebringe:  deshalb arbeite ich als Coach auch ganz viel mit Projektteams, vor allem aus dem Bereich agiler Methodik wie SCRUM oder KANBAN. Diese Teams leben von der Eigenverantwortung, der Geschwindigkeit, der Transparenz und Visualisierung ihrer Arbeit - auch ihnen fällt das Anhalten, das Innehalten schwer! Bei allen meinen Kunden gibt es Diskussionen (und meine Netzwerk-Kollegen bestätigen dies..) um die Notwendigkeit von Retrospektiven, Teamtrainings oder agilem Coaching: "jaja, alles gut und schön, können wir das nicht abkürzen, verschieben, abschaffen.. wir haben sooo viel Arbeit!" 

Ohne inne zu halten ist es schwer, die Zeichen zu erkennen, die nötige Ruhe zu finden, die eigene Haltung zu ändern oder gar den geordneten Rückzug zum letzten bekannten Haltepunkt anzutreten... Auch wenn in der Agilität Geschwindigkeit zählt und die Sprints anspruchsvoll terminiert sind: der Grad der Komplexität und der gegenseitigen Abhängigkeit innerhalb des Teams lassen es eben nicht zu, "dass man es schnell hinter sich bringen kann"!

Deshalb: anhalten, besinnen, umkehren - das sind keine Anzeichen von Schwäche! Im Gegenteil, vertrauen Sie auf Ihre Intuition, vertrauen Sie auf die eigenen Kompetenzen.. und falls das alles nichts nützt: bitten Sie um Unterstützung!

So, puh, das war wieder ein schwieriges Stück auf dem Weg der Veränderung.. danke, dass Sie mir bis hierher gefolgt sind! Beim nächsten Mal werde ich mal ein wenig darüber berichten, was NACH dem Weg passiert.. was ist eigentlich, wenn man eine Veränderung erfolgreich umgesetzt hat? Bleiben Sie dran..








Wolfgang, 10.05.2018 um 15:23